Für Menschen mit Behinderungen ist angestarrt werden Teil des Alltags

Kein noch so auffälliges Starren würde mich jemals davon abhalten, ich selbst zu sein (Bild mit freundlicher Genehmigung von Josephine Bridges)
Kein noch so auffälliges Starren würde mich jemals davon abhalten, ich selbst zu sein (Bild mit freundlicher Genehmigung von Josephine Bridges)

Ein Wettbewerb Der Blicke

Kürzlich wurde ich gefragt, wie viele Leute mich nach meiner Amputation anstarren, und das brachte mich zum Lachen. Ich habe vor allem deshalb gelacht, weil ich es gar nicht bemerkt hatte. Ich hatte elf Jahre lang eine Reihe von Narben auf meinem linken Bein und ein deformiertes Knie, das ich gerne in Röcken, Shorts und dergleichen zur Schau stellte. Ich verbrachte auch viel Zeit an Gehstöcken oder in Rollstühlen, was alles sehr viel Aufmerksamkeit erregte. Ich glaube, ich hatte mich zu diesem Zeitpunkt so sehr daran gewöhnt, dass ich nach der Amputation keinen Unterschied mehr sah. Das Anstarren hat mich nie wirklich gestört. Ich war immer der Meinung, dass mich kein noch so großes Anstarren davon abhalten würde, mich so zu kleiden oder so zu sein, wie ich es wollte. Während andere Menschen mich sehr deutlich sahen, nahm ich sie immer weniger wahr, bis die Starrenden schließlich für mich unsichtbar wurden. 

 

Schüchterne Starrer*innen, Fingerzeiger+innen und Gaffer*innen

Als Mensch mit Behinderung gehört das Angestarrt-Werden einfach dazu. Nach einer Weile kann mensch sogar anfangen, die Mich-Anschaueneden in Kategorien einzuteilen: die schüchternen Starrer*innen, die nur aus dem Augenwinkel schauen; die Fingerzeiger*innen, die denken, sie seien diskret, wenn sie die Aufmerksamkeit ihrer Freunde und Freundinnen in unsere Richtung lenken; die Gaffer*innen, die absolut keine Skrupel haben, mit offenem Mund zu glotzen, und dann die Kinder, die nicht genau wissen, ob du ein Superheld, eine Superheldin oder ein Roboter bist.

 

Das kann ein schwieriges Thema sein. Im Internet gibt es Kampagnen mit Slogans wie "Nicht starren, fragen". Diese Kampagnen sind jedoch selbst umstritten, da viele Menschen mit Behinderungen nicht von Fremden befragt werden wollen, wenn sie zum Beispiel grad nur ein Brot kaufen wollen. Ich habe mich oft gefragt, ob es eine Art System geben müsste; so etwas wie: Wenn mensch uns anstarrt und wir zurücklächeln, sind wir offen für Fragen. Wenn wir nicht lächeln und versuchen, uns zu verstecken, ist jetzt eher nicht der richtige Zeitpunkt für ein Quiz über unsere Gesundheit.

 

Die Frage, die gestellt werden muss, lautet: "Würdest du starren?". Könnest du von dir sicher sagen, dass du vor deiner Behinderung oder in einem anderen Leben, dass du nicht starren würdest? Und wenn du starren würdest, warum?  

 

Ich habe einige Leute gefragt: Freunde, Familienmitglieder, Fremde und mich selbst: "Warum schaust du? 

 

In den meisten Fällen waren die Antworten aus Neugierde oder Freundlichkeit. Sie schauen, weil sie hoffen, dass es uns gut geht; weil sie sich fragen, was passiert ist; weil sie wissen wollen, wie Menschen mit einer Behinderung umgehen. Sie schauen aus Bewunderung darüber, wie gut die betreffende Person zurechtkommt, oder weil sie die medizinische Wissenschaft und Technologie für erstaunlich halten (Rollstühle, Prothesen und dergleichen).

 

Seit ich diesen Artikel schreibe, achte ich genauer auf die Starrenden, und das sind viele. Ich habe auch mitgehört, den Kommentaren zugehört, die zwischen den Leuten ausgetauscht wurden, und sogar einen Blick auf den Text eines Starers geworfen, als er neben mir in der Bank stand. Sie stimmen mit dem oben Gesagten überein. Ich habe gehört: "Wow, sie macht sich so gut", "Ich habe noch nie eine Amputierte gesehen", "Ihr Bein ist so cool" und "Ist die Technik nicht erstaunlich".

 

In vier Wochen habe ich nur einen negativen Kommentar gehört.

 

 

Aus Der Masse Herausstechen

Letztlich sind die meisten Menschen mit Behinderung eine Anomalie. Keine schlechte Anomalie, auch keine gute Anomalie, sondern einfach eine Anomalie. Meine Schwester zum Beispiel hat langes, dickes, lockiges, rotes Haar, und ich würde sagen, sie wird genauso angestarrt wie ich, und zwar von allen möglichen Leuten. Die Leute sind interessiert, stellen Fragen wie "Färben Sie es?", "War es schon immer so dick?" und eine Dame hat sie sogar schon im Fahrstuhl angefasst, ohne sie zu fragen (was ganz sicher nicht in Ordnung ist). Das ist keine Beleidigung und kein Kompliment. Es passiert einfach nur, weil es anders ist. Es liegt in der Natur des Menschen, Unterschiede zu erkennen, denn das hilft uns beim Überleben.

 

Natürlich sollten sich unsere Unterschiede niemals darauf auswirken, wie wir behandelt oder respektiert werden. Deshalb ist es nicht in Ordnung, andere zu schikanieren, mit dem Finger auf sie zu zeigen und sie auszulachen oder Witze über sie zu machen. Aber ist das Ansehen wirklich so schlimm? Wenn uns unerwünschte Aufmerksamkeit zu Teil wird, reflektieren wir oft unsere eigene Unsicherheit auf andere. Wäre es nicht unsere Behinderung, würden wir uns fragen: "Schauen die auf meinen Fleck?" oder "Hängt mein Hemd heraus?".  Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist, ob wir auf Unterschiede starren und was wir dabei denken. Wenn wir die Straße entlanggehen und Menschen ansehen, ja ich wage es zu sagen, sie „anstarren", denken wir dann an etwas Schreckliches oder sind wir fürsorglich, neugierig oder fasziniert? 

 

Diese Frage kann uns helfen, die Angst vor dem Anstarren abzubauen. Wenn wir uns in die Situation der Starrenden hineinversetzen und uns fragen könnten, ob wir sie anstarren würden und warum, könnten wir beginnen, die Unsicherheiten, die uns umgeben, abzubauen und das Starren letztlich unsichtbar machen. Eine Behinderung bedeutet, anders zu sein. Und anders zu sein bedeutet, aufzufallen. Also kann man ihnen auch etwas Wunderbares zum Anstarren geben.

 

"Unsere größte Stärke als menschliche Spezies ist unsere Fähigkeit, unsere Unterschiede anzuerkennen. Unsere größte Schwäche ist unser Versagen, sie anzunehmen!" - Judith Henderson  

 

 

Gastbeitrag von Josephine Bridges. Josephine ist eine 28-jährige Knochenkrebsüberlebende, die sich im Oktober 2018 nach jahrelangen Operationen und Komplikationen für die Amputation ihres Beins entschied. Josephine war schon immer sehr aktiv und so nimmt sie ihr neues Leben als Amputierte mit Begeisterung und Hoffnung für die Zukunft an. Ihr könnt ihr auf Instagram folgen und sie über ihre GoFundMe-Kampagne unterstützen. 

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